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Liner Notes


Fließende Festigkeit

Zur Musik von Matthias Ockert
Von Hans-Jürgen Linke

Musik bewegt sich in der Zeit, durch die Zeit und nie unabhängig von ihr. Schallwellen sind ihr Medium, aber Zeit ist die kategoriale Bühne ihres Erscheinens in der Welt. Das war seit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik ein fixer Topos aller Musikphilosophie. Vom Hörer fordert Musik dessen Zeit und definiert selbst, wie viel sie ihm abverlangen muss. Wer ihren Imperativen nicht folgen mag, verweigert sich und bekommt für die eigene Wahrnehmung nie etwas Ganzes.
Ebenso ist jede Aufführungssituation von Zeit abhängig. Und die Frage wäre interessant, ob und wie Musik außerhalb von Aufführungssituationen existieren kann, wenn ihr der menschliche Sinn des Hörens zugewiesen ist, der ihr Eingang in das Vorstellungsvermögen und die synaptischen Netze verschafft. Ist nicht das menschliche Hören geradezu konstitutiv für die Existenz von Musik?
Musik, die nicht gehört wird, hat nicht den gleichen Gehalt an Wirklichkeit. Sie existiert bloß als Möglichkeit in grafischen Aufzeichnungen, Notentexten, Dateien, Tonträgern.
Immerhin ist sie so ihrer nur zeit- und daher augenblicksgebundenen Flüchtigkeit entkommen. Dass Musik so seit Jahrhunderten existiert, ist Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, an dem Musiker und Notenstecher mit gearbeitet haben. Der Musik wurde gewissermaßen ein Auffangnetz gespannt zwischen der singulären Aufführung und der auf immer reproduzierbaren, idealen Aufführung. Aber beide, die Singularität und das Ideale, sind nicht die Wahrheit, um die es geht. Die Wahrheit hat mehrere Teile und Orte, zwischen denen man, je nach Temperament, einen Widerspruch oder eine Koexistenz etablieren kann.
Eine Wahrheit liegt sicher darin, dass es bei jedem kompositorischen Akt um das Fixieren flüchtiger Momente geht. Musik soll nicht nur in der Zeit dahin fließen, und Schluss, sondern Festigkeit bekommen, also Struktur und Form. Und damit sind wir mitten in der Mathematik.
Denn seit es Musik gibt, also Klänge mit Rhythmen und definierten Tonhöhen, die von Musikinstrumenten erzeugt werden oder bewusst von der menschlichen Singstimme, ist klar, dass dies alles auf Proportionen, auf berechenbaren Relationen beruht. Formen, Schemata und Regeln sind entstanden und haben Erwartungen hervorgebracht. Die Proportionen, die Strukturen geben der Musik Wiederholbarkeit. Sie sind das Ideale an ihr. Aber nicht unbedingt das einzig Reale.

Matthias Ockert ist ein Komponist, der die Dinge einerseits fundamental und tiefgreifend angeht, der andererseits aber das Konkrete liebt, das Expressive, das Einzigartige, vielleicht gelegentlich auch das Regelwidrige oder Regellose. Allerdings nicht um den Preis, dass dem Regelwidrigen und Regellosen jegliche Regelhaftigkeit ganz und gar fehlte, dass das Konkrete sich vom Ideal ablöste oder umgekehrt: Stets bleibt das Eine im Horizont des Anderen erhalten. Es geht nie um ein Entweder-Oder, es geht um Ko- und Parallelexistenzen. Und nie nur um die Musik im Fluidum der Zeit.
Wer über die Zeit hinaus denkt, landet sogleich im Raum. Ohnehin wagt sich die Zeit seit gut einem Jahrhundert kaum mehr allein aufs philosophische Parkett, sie scheint mit dem Raum kategorial unlösbar zur Raumzeit verbunden. Raum und Zeit entziehen sich damit jeglichem landläufigen Alltagsbewusstsein und Vorstellungsvermögen.
Das Alltagsbewusstsein war vordem, mit Immanuel Kants synthetischen Kategorien a priori, gut bedient. Es hätte sich nicht träumen lassen, dass alles viel synthetischer sein könnte und dabei nicht weniger apriorisch. Im Grunde will und kann es die vertrauten Denkformen, in denen Zeit und Raum unterschiedliche Dimensionen des Bewusstseins und der Welt bespielen, auch nicht verlassen. Zu passgenau entspricht diese Denkweise den Gewohnheiten der Welterfahrung, auch wenn man alles längst besser wissen könnte. So dass sich der Raumzeit Hindernisse in den Weg stellen, wenn sie als ästhetische Kategorie ernst genommen werden will: Wie, bitte, soll man sich das denn vorstellen, diese apriorische kategoriale Synthese des Raumes und der Zeit, die offenbar zwischen dem Wann und dem Wo nicht trennscharf unterscheiden kann?
Mit der Musik aber gibt es eine Kunstform, die die moderne Auffassung der Raumzeit geradezu anschaulich in ihre Praxis aufgenommen hat. Sie weiß es nur nicht immer.

Mit dem, was Musik über sich selbst nicht immer weiß, mag zusammenhängen, dass Matthias Ockert, wenn er die ersten Jahre seiner (unvermindert anhaltenden) musikalisch-kompositorischen Ausbildung Revue passieren lässt, den Eindruck hat, er sei im falschen Film gewesen. Er wollte etwas ganz Einleuchtendes, was dennoch allenthalben als unmöglich angesehen wurde.
Matthias Ockert ist als Jazzgitarrist dem klingenden Augenblick, dem Fließen der Musik in der Zeit künstlerisch verpflichtet. Andererseits hat er Architektur studiert, also mit der Formung und Strukturierung von Material, mit Entwurf und Konstruktion, Statik und Festigkeit, kurz: mit Kategorien des Raumes und seiner Ordnung zu tun. Dass das Fließende und das Feste einen engen Zusammenhang bilden, war ihm intuitiv klar, auch wenn seine Studienfächer nichts miteinander gemein zu haben schienen.

Die Begegnung mit dem Werk des Komponisten Iannis Xenakis bedeutete eine Horizonterweiterung. Xenakis war als Architekt Schüler und Partner von Le Corbusier und hat, wie wahrscheinlich niemand vor ihm, die Architektur zum Ausgangspunkt seines Verständnisses von Musik gemacht. Die wenigen Artefakte, an denen sich Xenakis’ enge Verbindung beider Disziplinen künstlerischer Konstruktivität erfahrbar machen lassen, sind nicht von unmittelbar erlebbarer Wirklichkeit und auch nicht von einer sogleich ins Auge springenden Doppelgestalt.

Ein Prototyp war der Philips-Pavillon, den Xenakis als Mitarbeiter Le Corbusiers konstruierte und gestaltete und der 1958 die Brüsseler Weltausstellung bereicherte: ein Gebäude, dessen Grundriss dem menschlichen Magen nachempfunden war und dessen Gestalt und Ausstattung der elektronischen Musik diente, die in ihm gespielt wurde. Das war Edgard Varèses Poème électronique und Xenakis’ Concret PH. Xenakis’ Komposition Metastasis, in der glissandierende Bewegungen der vielfach geteilten Streicher auf den gleichen Formeln beruhen wie die hyperbolischen Paraboloidformen des Pavillons mit seinen steilen Außenflächen, wurde in Brüssel nicht aufgeführt. Von der Weltausstellung blieb das lustige Atomium übrig, der schöne, komplexe Pavillon aber wurde abgerissen. Er existiert heute, wie eine nur einmal aufgeführte Musik als Partitur fortdauert, in Form der erhalten gebliebenen Konstruktionspläne – und der Komposition Metastasis, also gewissermaßen in unvermittelter Doppelgestalt.

Matthias Ockert ist nicht das, was man einen Xenakis-Schüler nennen müsste. Er ist Architekt und Musiker, der zwischen beiden Arbeitsweisen keinen prinzipiellen Unterschied zu machen bereit ist und keinen Anlass sieht, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Methoden des Musikmachens wie Improvisation und Komposition können parallel existieren, auseinander hervorgehen, sich überlagern, bereichern, in Frage stellen.
Es ist nicht weiter erstaunlich, dass sich Matthias Ockerts so weiträumig verankerte Arbeit als Musiker in besonderer Weise dem Nicht-Fassbaren stellt; dass die Titel seiner Stücke gern mit Aporien spielen; dass seine Musiksprache keine Berührungsängste mit Methoden und Materialien kennt, keine Betreten-Verboten-Schilder in der musikalischen Landschaft; dass er aber auch alles Ungefähre, Wabernde, Amorphe vermeidet.
Raum wird zugänglich durch Gliederung, durch Rhythmisierung, durch eine Anordnung von Ereignissen und Gestalten, die seine Perspektiven, seine horizontverstellende Dichte, angespannte Leere oder, warum nicht, seine Krümmungen bilden oder abbilden.
Die Zeit, also der Verlauf dieser Ereignisse, enthält Dramatik, Dynamik, Unvorhersehbarkeit. Aus der Zeitlichkeit speist sich die Energie, auf die man als Musiker immer wieder rekurrieren können muss, um Ereignisketten zuzuspitzen. Dafür braucht man nicht nur Notenpapier und Datenträger und nicht nur Musiker, die verlässlich die Noten spielen, die man ihnen aufs Pult legt. Die Musiker müssen in der Lage sein, dem Komponisten einen Teil der Verantwortung für die klingenden Ereignisse abzunehmen, sie müssen ihm ermöglichen, die eigene Musik loszulassen und ihre sinnliche Entstehung anteilnehmend zu verfolgen.
Solche Musiker findet man zum Beispiel in der Jazz-Szene. Jazz als Musik-Gattung ist durch ein hohes Maß an gestalterischer Eigenständigkeit der spielenden Musiker geradezu definiert, andererseits auch durch idiomatische Eigenarten, typische Formverläufe, ein Repertoire, also insgesamt durch eine mehrdimensionale Existenzweise zwischen Ideal und Augenblick, Formalität und Spontaneität.

Aber auch die Entstehung einer Tradition von westeuropäischen Ensembles, die sich mit besonderem Engagement und maximaler Kompetenz der Aufführung zeitgenössischer Musik verschrieben haben, hat seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Musik Möglichkeiten erschlossen, die vorher kaum zu erspüren waren. Ensembles, die ihre Empathie, ihre avancierten Spieltechniken und hoch flexiblen Arbeitsweisen den Erfordernissen aktueller Musik anbieten und ständig anpassen, haben Komponisten ermutigt, die vielleicht früher einen anderen Beruf – etwa Architekt – ergriffen oder für die Schublade produziert hätten. Die Ensembles sind in der Lage, dem Komponisten ein kundiges Feedback auf seine Arbeit zu geben. Denn wie jeder Mensch braucht auch der Komponist Feedback.
Es ist also kein Streben nach Unmöglichem, wenn man beides will, das Ideal und dessen Verwirklichung im Augenblick. So etwas Schwieriges zu wollen, heißt ja nicht, es hier und jetzt ein für allemal zu realisieren. Es heißt in der Regel: gleich wieder neu anzufangen, mit neuem Material, neuen Ideen, neuen Irrtümern. All das kommt nicht aus jener Region, in der sich, unendlich fern von erfahrbaren Räumen und Zeiten, die Parallelen berühren. Es kommt aus der Wirklichkeit der Musiker. Musik ist immer nur vorübergehend ein einsames Geschäft. Die Einsamkeit, in der der Komponist komponiert, ist eine konzentrierte Zwischenphase, ein Rückzugsraum, kein Ort der Eigentlichkeit. Man verliert sich dort und/oder findet sich wieder, aber man bleibt dort nicht.
Es liegt nahe, dass ein Komponist mit so weiträumigen Konzeptionen, wie Matthias Ockert sie praktiziert, nicht ausschließlich ein herkömmliches Instrumentarium verwenden wird. Er arbeitet ausgiebig mit elektronischer Klangerzeugung in der unendlichen Welt synthetischer Klänge. Aber beim einsamen Komponieren hat er oft die elektrische Gitarre dabei. Die ist, seit Charlie Christian und Jimi Hendrix deren sinnliche Klang-Eigenarten neu erschufen, ein enorm physisches Instrument geworden. Die elektrische Gitarre hat es immer mit einem imaginären Klangraum zu tun, und wegen der leichten Zugänglichkeit der Stahlsaitenschwingungen für elektronische Bearbeitung immer auch mit einem Klangraum, der vielleicht nicht unendlich, aber doch unabsehbar formenvielfältig ist. Matthias Ockert bevorzugt als Gitarrist eher einfachere elektronische Geräte und industrielle Standardeffekte. Die Effekte sind nicht annähernd so wichtig wie das Spiel mit ihnen.
Stretto – Fluid Space ist Teil einer elektronischen Acht-Kanal-Komposition, deren Material aus E-Gitarren-Samples besteht. Der Titel ist eine Anspielung an das Stretto-Haus (1989–1991) des Architekten Steven Holl, dessen Form ihrerseits von Béla Bartóks Musik für Streichinstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936) inspiriert ist.
Steven Holls architekturtheoretischer Text Intertwining ist eine Inspirationsquelle für Ockerts Komposition Laminar Flow. Der Titel erwägt und konstruiert Möglichkeiten einer geschichteten Fließbewegung. Mitglieder des Ensemble Modern und des Ensemble intercontemporain haben dabei geholfen.
Nachglut denkt mit Hilfe von Live Samplings über Gustav Mahlers Diktum nach, dass Tradition die Weitergabe des Feuers ist, nicht die Anbetung der Asche. Zwei Klaviere denken mit. Die Samplings verlangsamen und beschleunigen das Material, variieren dementsprechend auch die Parameter Tonhöhe und Zeit. Danach muss sich das Ensemble richten.
Continuous Open Flux enthält ebenfalls eine Anspielung auf Steven Holls Intertwining. Die Komposition für Kontrabass, vier Schlagzeuger und Elektronik enthält wechselnde Reaktionen zwischen Bass und Schlagwerk und verwendet eine Verfahrensweise elektronischer Musik als kompositorisches Prinzip, wobei die elektronischen Klänge rein synthetisch sind.
Dans la Nuit für Gitarre und Klavier ist ein post-romantisches Nachtstück mit künstlichen Klangräumen. Es ist dem Dichter Henri Michaux gewidmet.
Strombahnen II folgt einer Partitur, die zugleich ein Computerprogramm ist, in dem bestimmte Töne bestimmte Prozesse auslösen. Die Elektronik scheint also ein Eigenleben zu führen, das nicht allein aus sich selbst heraus verstehbar ist. Strombahnen ist dementsprechend kein technischer, sondern ein medizinischer Terminus.
Die sieben nummerierten Stücke mit dem Titel Primum Mobile sind Szenen aus einer abendfüllenden Komposition, die sich gleichermaßen auf Dante bezieht wie auf die Sammlung Prinzhorn, eine Sammlung von Kunstwerken so genannter Geisteskranker. Sie haben mit Dante die Gewissheit gemeinsam, dass das irdische Paradies nur in einer Tätigkeit um ihrer selbst willen bestehen kann. Oder wäre das die Hölle?

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